Heinz Emigholz 1 jan 2002

Interaktive Narration

ein Widerspruch in sich selbst?

Eine Vorlesung von Prof. Heinz Emigholz über Interaktive Narration.

DIENSTAG, 6. FEBRUAR 2002. Nachmittags eine Vorlesung an der Universität der Künste Berlin zum Abschluß eines Seminars über Interaktive Narration: Der Begriff Interaktive Narration ist ein Widerspruch in sich selbst, aber ein sehr produktives Beispiel für eine contradictio in adjecto. Das hat mit der tradierten Bedeutung seiner Bestandteile zu tun.

Narration transportiert das Modell einer einseitig gerichteten Interaktion. Zu hören und zu sehen sind durchgestaltete Produkte, oral vorgetragene oder schriftlich fixierte Texte, originale oder reproduzierte Bildwerke und filmische Abfolgen, die betrachtet und interpretiert werden können. Die künstlerisch-gestalterischen Prozesse, die zu einem narrativen Produkt geführt haben, können dabei interaktive sein. Sie können auch, komplex in einem Produkt umgesetzt, interaktive Prozesse auslösen. Das Produkt selbst ermöglicht allerdings nur eine einseitig linear ausgerichtete Interaktion, die direkt durch Dramaturgie, Berechnung, Befehl und Entscheidung und indirekt durch Wirkungen wie Spannung, Langeweile und Bewertung ausgelöst wird. Das narrative Produkt ist der durchgestaltete Text einer fremden Intelligenz, die von der eigenen Intelligenz komplex interpretiert werden kann. Traditionell narrative Produkte enthalten per se interaktive Anteile in ihrer Produktion und Konsumtion, indem sie diese - bewußt oder unbewußt - dokumentieren oder freisetzen.

Im Gegenzug stößt man in dem von uns genauer zu definierenden Gestaltungsprodukt Interaktives narratives Gebilde immer wieder auf das traditionelle Regelwerk der Narration, und sei es auch nur in Form von Spezialfällen oder Abweichungen von der Regel. Allein schon das Wort Befehl spricht in Bezug auf die Interaktion mit dem Interface eines Rechners Bände.

Komplex ausgeführte narrative Werke mit ihren zum Teil in die Vorzeit zurückreichenden Regelwerken - siehe die antike Mnemotechnik und den Goldenen Schnitt - haben zweifellos große Vorzüge. Die menschliche Erfahrung wird in ihnen komplex gespeichert zugänglich gemacht. Narrative Produkte wurden zum Speicher für kollektive Erfahrungen und Wissen. Sie sind aus dem Stand heraus nicht durch etwas Anderes zu ersetzen. Kein neues Medium führt zu einer tabula rasa Situation. Es gestaltet allerdings das Wirkliche interpretierend um und schlägt der Sprache neue Bereiche zu. Das hat auch die traditionelle Narration als Medium getan, indem sie die entschiedene und behauptende Linearität in einen für den Menschen relativ chaotischen Kosmos als politische Kraft einführte.

Die Narration ist ein Regelwerk entschiedener Behauptungen, die einen Kontext bilden. Sie bildet diesen Kontext in Relation zu einem chaotischen Haufen gleichzeitiger Erscheinungen. Sie tut dies, indem sie Bewertungen, Blickpunkte, Perspektiven und Hierarchien einführt. Diesem Ordnungsanspruch werden – logisch gesehen – die befreienden und interpretativ noch nicht festgelegten Möglichkeiten für Aussagen, die in der alternativen Gegenwart des Chaos versteckt liegen, geopfert. Die Logik dieser Möglichkeiten des Chaos künstlerisch zu bearbeiten, ist historisch ein neues Arbeitsfeld. Es verdankt sich dem wirtschaftlichen Surplus eines global linearen Politgeschehens samt seiner Zwänge und Freisetzungen. Daß die Strategien westlicher Avantgarde-Bewegungen im Wesentlichen autoritär an diesen Zwängen negativ fixiert bleiben - oder, freigesetzt, Kitsch produzieren –, ist hier nur nebenbei das Thema. Es geht erst einmal um das Wesen der Narration.

Das Ideal der Narration ist es, das Universum des Lebens, das sich bezogen auf eine äußere Umgebung in den Inhalten und Funktionen unseres Denkens und Handels – also in unserem Geist und in unseren Körpern – spiegelt, angemessen wiederzugeben. Dieses Ideal teilen sich viele traditionelle Medien mit den neuen technischen Bildmedien. Auch die vielbeschworene Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Medien läßt sich von diesem Ideal ableiten, und in der Fortschrittsideologie der Neuen Medien liegt dieses Ideal als unabdingbare Referenz eingeschrieben vor.

Jedes neue Medium hat das Erkenntnisinteresse, einen neuen und - im Vergleich zu den vorangegangenen Medien – direkteren und komplexeren Zugang zum Universum des tatsächlichen Lebens, mitsamt den daraus hervorgehenden Phantasieleistungen, zu erschaffen. Alle Sinne sollen in den verschiedenen Medien möglichst avanciert zu ihrem Ausdruck kommen. Eine gesamtkunstwerkliche Anstrengung soll zu einer Repräsentanz des Denkens führen. Das Denken drängt aus einem durch Übersetzungen, symbolischen Akten und anderen Interfaces geregelten Ausdruck seines Seins in eine direktere Umsetzung. Es wird erfahrbar gemacht, als Nachvollzug des Wirklichen und in dessen experimentellen Anordnungen.

Interaktion ist als Medium diesem Ideal der Spiegelung eines Universums nicht von vornherein verbunden. Der Bereich der eingeschränkten Interaktion, also der Beschränkung auf die Interpretation eines vorgelegten Produktes, der Vorgang einer einseitig vom Sender zum Empfänger in Form von Befehlen und Handlungsanweisungen gerichteten Interaktion und das Feld der Scheininteraktivität, also der Vortäuschung nicht existierender Wahlmöglichkeiten, sind für unseren Zusammenhang wenig interessant. Der Begriff Interaktion entspringt allerdings einer politischen Sphäre, in der Menschen und andere Lebewesen zusammentreffen und um die Regelung kommunikativer Abläufe kämpfen. Es kann sich dabei um einen demokratisch ausbalancierten Prozess, aber auch um einen Kampf um Leben und Tod handeln – so etwa die voneinander entferntesten Pole des Geschehens.

Entwicklung und Ausagierung interaktiver Prozesse können aber mit dem beschriebenen Ideal verbunden sein, und darum geht es hier: Wie läßt sich 'relativ befreit' erzählen? Wir setzen dafür eine demokratische Umgebung, in der Lernprozesse und eigene Entscheidungen möglich sind, voraus. Aber auch eine Umgebung, in der die Grammatik des Traumes, also die einer zwar real stattfindenden, aber noch nicht geklärten Vernetzung von Inhalten – als Stellvertreter einer Sphäre, die logisch noch nicht durchforstet ist –, einen Annäherungswert darstellt.

Wie definieren wir an dieser Schnittstelle den Begriff Interaktive Narration, wie lösen wir uns aus den Traditio-nen seiner Begriffsbestandteile? Erst einmal haben wir uns mit Florian Thalhofers Karsakow-Maschine für eine Programmumgebung entschieden, die ein Möglichkeitsensemble hervorruft, das viele banale Verschleierungen von Scheininteraktivität, also einfache 'Weichen' oder 'Baumstrukturen,' wenn auch nicht ausschließt, so jedenfalls nicht favourisiert. Man kann mit diesem Programm an der Beantwortung der Frage arbeiten, wie in ein neues Medium Denken implantiert werden kann. Das ist ein ambitioniertes Motiv, denn bisher waren noch ALLE Medien Procrustes-Betten fürs Denken.

Die Definition lautet: Interaktive Narration (IN) ist eine technisch unterstützte, durch aktuelle Entscheidungen des Users beeinflußte, jeweils neue lineare Aufbereitung von Raum-Zeit-Partikeln. Diese Raum-Zeit-Partikel nennen wir kleinste erzählerische Einheiten (SNU = Smallest Narrative Unit). SNUs sind Bilder (Pictures in Time = Pt), zweidimensionale Entitäten, die vom Schwarzbild über das fotografische Abbild und seiner filmischen Abfolge bis zum Schriftbild alles enthalten können, was auf der Fläche gestaltet werden kann. Kombiniert mit Tönen oder einer bildinternen Bewegung, die einen zeitlichen Ablauf vorgeben, ergibt sich aus einem Pt oder mehreren Pts ein vollständiges SNU.

Diese kleinste erzählerische Einheit (SNU) der IN ist gekennzeichnet durch eine linerae Intaktheit, die nur durch Abbruch unterbrochen werden kann. Die SNU offeriert während ihres linearen Ablaufs an beliebig vielen festgelegten Stellen beliebig viele Kontaktpunkte (POC = Point of Contact, Possibility), an der Schlüsselwörter (KEYs) andocken können.

Die Welt der KEYs ist eine andere als die der SNUs. KEYs sind die symbolischen Zeichen eines bestimmten Subtextes und dienen als verdeckte Steuerungsmechanismen des Autoren eines interaktiv narrativen Gebildes. Die KEYs können interne Abschnitte der SNUs spiegeln, sich also analog beschreibend oder zitierend zu ihnen verhalten. Sie können aber auch der Welt eines verdeckten Subtextes angehören, in der abstrahiert, assoziiert, kontrapunktiert, richtungsweisend agiert, bewertet, negiert oder bejaht, analysiert und sortiert wird, ohne daß dem User diese Kriterien bewußt werden müssen.

Grammatikalisch ist die SNU ein Satz mit genau definierter zeitlicher Ausdehnung. Er ist zerlegbar in kleinste zeitliche Einheiten, die alle POCs sein können. Diese POCs können je nach der Welt, die sie vertreten, verschiedenen Klassen von Subtexten angehören – analog zu Verben, Substantiven, Objekten und Satzzeichen – das Feld ist sehr weit und viele gesonderte Untersuchungen wert. Die an sie angedockten KEYs haben die Funktion von Konjunktionen (und/oder) in einem Meer von Möglichkeiten (SOP = Sea of Possibilities) – einer utopischen Einheit, die als non-lineare Entität gleichzeitiger Erscheinungen existiert, sich aber niemals linear darstellen läßt. Die Nervenzellen der SOP sind die POCs, an der sich vermittels KEYs die zu erfahrenden Einheiten, also die SNUs, andocken.

Die SOP ist der Bodensatz der non-linearen Interaktivität. Jede der darin auftretenden Möglichkeiten schließt, im Falle einer D (Decision) für die Zeit der Entfaltung einer Pd (gewählte Möglichkeit) jede andere Möglichkeit (Pn) aus. Das heißt auch, daß jede D ein Aufstand in die Linearität ist. Jede D setzt für eine bestimmte Dauer von Zeit Interaktion aus. Der User tritt in den Zustand der Erwartung (EX = Ex-pectation) ein, in dem er auf das Neue (NEW = Teilmenge von SNU) wartet. Eine neue D an irgendeinem POC setzt der EX ein Ende. Die EX kann dabei auch durch Enttäuschung (Nichteintreffen von NEW) beendet werden.

Wenn Pd für die kurze Zeitspanne des Ablaufs der SNU die SOP und ihre Non-Linearität ausser Kraft setzt, stellt sich die Frage, ob wiederum in einer SNU die traditionellen Gesetze der Narration uneingeschränkt vorherrschen sollten. Unsere Arbeitsergebnisse weisen darauf hin, daß diese Gesetze umgeschrieben, angeglichen und im gewissen Sinne auch für die SNU neu erfunden werden müssen. Die technische Aufbereitung und Inszenierung der SNU muß in Hinblick auf IN erfolgen, das heißt, sie darf nur bedingt strikt lineare, unumkehrbare Prozesse beinhalten. Anscheinend muß jede SNU einen idealen Grad von Mehrdeutigkeit und möglicher Gleichzeitigkeit (AS = Ambiguity, Alternative, Simultanity) enthalten. Man könnte an dieser Stelle eine Liste der Gestaltungsrichtlinien für eine "gute" SNU anführen, muß sich aber bewußtmachen, daß gerade an diesem Punkt unausgesprochene Ideologien transportiert werden, die dazu saisonal starken Schwankungen ausgesetzt sind.

Die abstrakt oder konkret, dokumentarisch oder inszeniert gestaltete SNU ist Träger eines bestimmten Erzählstils, eines bewußten oder unbewußten Formwillens. Diese Form bildet den gestalterischen Subtext (Design Subtext = DS) des Inhalts einer SNU. Die Einheit und Akzeptanz (Acceptance = A) eines interaktiven narrativen Gebildes ist desto größer, je weniger unterscheidbare DS in ihr auftauchen: A ist am höchsten, wenn die Anzahl der verschiedenen DS ihrer SNUs = 1 ist, am niedrigsten, wenn die Anzahl der verschiedenen SNUs der Anzahl der verschiedenen DS gleicht.

Jede lineare Narration birgt in ihrem Kern eine kommunikative Interaktion. Und viele Formen der Interaktiven Narration sind Rudimente einer linearen Kommunikation. Diese sind als Hierarchisierungen und Manipulationsmöglichkeiten in der Anlage unserer Maschine abzulesen: das Movie rating, das verdeckte Verzeichnis der KEYs, die zeitliche Versetzung der POCs. Auch der Zufall, der eine erwünschte Erneuerung verspricht, wird in diesem Zusammenhang funktionalisiert und als quasi rationale Größe eingesetzt. Er repräsentiert die Freiheit eines ständig möglichen Zugriffs in die SOP. In Erweiterung der Randomfunktion bergen das Zappen zwischen on-line existierenden Programmen als kulturelle und das Spielen über Konsolen als motorische Kordinationsleistung ein zukünftiges Potential für den Ausbau interaktiv narrativer Gebilde.

Alle in diesem System auftretenden Fälle schließen Langeweile (Boredom = B) nicht aus. Langeweile ist aber ein Begriff, der einem polit-ökonomischen Bewertungssystem entspringt. Wie verhält sich also B zu den politischen Polen Demokratie und Diktatur? Jetzt sind wir an dem Punkt, nämlich der Sphäre des Gesellschaftlichen, an dem die traditionelle Narration schon immer angesetzt hat. Sie hat das System ihrer Verkürzungen und linearen Behauptungen traditionell damit verteidigt, daß sie es mit einer jeweiligen politischen Wirklichkeit zu tun hat, in der sie sich – als überschüssige kulturelle Kraft - verteidigen muß, um weiterhin neue Inhalte setzen zu können. Das 'neue Medium' interaktive Narration steht vor der gleichen Problematik. Soll es als Erzählmedium Autorität gewinnen – in seinen jeweiligen Aussagen und auf dem Markt des zu Erzählenden überhaupt –, muß es sich gegebenenfalls auch gegenüber einer feindlichen Umwelt durchsetzen.

Der 01-Award-Preisträger Alan Kay sagt an dieser Stelle, Doing with images makes symbols. Der Satz verdankt sich einer Zeit, in der die Computer im Höchstfall mit grafischen Symbolen umgehen konnten, nicht aber mit einer filmischen Repräsentanz des Wirklichen. Was wir heute erleben, ist ein erneuter Paradigmenwechsel bei den Gestaltungsmöglichkeiten der Materie Zeit mit und durch den Rechner. Die Streaming-Techniken haben zu einem Quantensprung in der Gestaltung geführt. Wir sind bei der Darstellung des Wirklichen nicht mehr auf eine symbolische Ordnung – also Repräsentanz, Geheimnis, Hierarchie – angewiesen, sondern können die Sache selbst in real time als 'zweite Natur' im Rechner betrachten und gestalten. Die demokratischen Ideale rücken damit in die Nähe des zu Verwirklichenden, das heißt, sie lösen sich ein Stück aus ihrem Dasein als abstrakte Prinzipien. Die Welt erscheint allen gleich direkt zugänglich, unabhängig von Codes. Das Zitat scheint uns also erst einmal wenig zu nützen. Vielleicht meint Kay aber ein Symbol 'höherer Ordnung', nämlich, daß jede SNU in gewisser Weise auch wieder ein Symbol sein muß, weil sie zwar weniger abstrakt als ein Code daherkommt und sichtbar Wirkliches repräsentiert, immerhin in ihrem Auftritt aber gleichzeitig eine andere Wirklichkeit verdrängt.

Die 01-Award-Preisträgerin Frieda Grafe schreibt, Eine neue Wirklichkeit rückt erst durch eine neue Weise der Wahrnehmung ins Blickfeld, und meint damit wohl auch, daß die jeweiligen Apparate, die unsere Wirklichkeit formen, auch eine Entsprechung in unserer Wahrnehmung finden, und daß sich das Neue erst durch sie erfahren läßt. Was könnte man in diesem Zusammenhang überhaupt eine 'neue Wirklichkeit' nennen, und was eine 'neue Wahrnehmung'? 'Neu' in Bezug auf was, auf die Gesellschaft, die Gattung oder das Individuum? Verheerende Naturkatastrophen oder Quantensprünge im technischen Fortschritt betreffen wahrscheinlich alle drei. Sind unsere Interpretationen, was Wirklichkeit sei, etwa beliebig? Wie ergibt sich überhaupt etwas 'Neues'? Unser Begreifen von Wirklichkeit ist einerseits durch die Apparate unserer Wahrnehmung, und durch die stofflichen Medien unserer Existenz – durch den Raum, den Körper und die Zeit, in dem und in der wir leben – und andererseits durch die geografischen und politischen Konstellationen des Gesellschaftlichen – durch Wirtschaftsgesetze, Wissenschaft und Rechtsvorschriften – begrenzt. Gleichzeitig ergibt sich die Mehrdeutigkeit des Wirklichen durch die Existenz dezentraler Denkeinheiten, also durch die Spiegelung des Universums im Bewußtsein der einzelnen Lebewesen, durch die relative Gleichzeitigkeit ihrer Existenz. Man hat sich überhaupt nur etwas zu erzählen, weil sich zwei verschiedene Lebewesen zu einem bestimmten Zeitpunkt nie exakt am selben Ort aufhalten können. Ihre Wahrnehmung differiert zumindest im Blickwinkel. Jeder Körper birgt seine eigene Perspektive in Zeit und Raum.

Welche unausgesprochenen Übereinkünfte treffen wir, bevor wir uns auf die Erzählung von Nuancen unseres gemeinsamen Universums einlassen? Die Demokratie ermöglicht als Medium einer politischen Gleichheit einen non-linear synchronen Erzählstrom. Sie setzt idealiter die Geduld mit dem Andersartigen voraus. Sie ermöglicht den Vertrauensvorschuß, der jeder Veränderung, die aus Lernen und Einsicht entspringt, eingeräumt wird. Nun ist aber der Idealbewohner unserer westlichen Demokratien die Figur des bewußten Konsumenten, der selbst am Besten weiß, was gut für ihn ist. Woher sein Wissen kommt, nach dem er seine Entscheidungen fällt, und wie der Einsicht in komplexe Zusammenhänge gegenüber seinem common sense Autorität verliehen werden kann, ist ein andauernder Balanceakt, der in jedem Fall auch immer ein gefährdeter ist. Hier ist viel Raum für die Repräsentanz des Banalen, ohne das kein Leben in Frieden gelebt werden kann. Aber auch für den Zugriff einer mit dem Willen zur Macht ausgestatteten Dummheit bieten sich diverse Möglichkeiten. Für uns naheliegender ist die Frage, wie sich ein interaktiv narratives Gebilde, in dem zeitlich nicht vorherbestimmbar Assoziationen ausgelöst werden, von der generellen Tendenz zum assoziativen Schwachsinn abgrenzen läßt - dieser besonders in den Bildenden Künsten grassierenden Verballhornung der Chaos-Theorie, daß irgendwie schon Alles mit Allem zusammenhänge, solange nur auf gutmütige Interpreten Verlaß sei.

In diesem permanenten Balanceakt erscheint Interaktive Narration als eine spezifische Kunstform der Demokratie. Sie kann nur bedingt auf das Regelwerk des traditionellen Erzählens zurückgreifen, weil diese sich an anderen kommunikativen Idealen - dem der Kompression oder dem des Archivs – ausrichtet. Sie bietet Wege in ein autorial gestaltetes Möglichkeitsensemble, das sich durch Entscheidungen von Usern jeweils neu zusammensetzt. Sie ermöglicht durch das Zusammenspiel der gestalterischen Absichten von Autoren und den jeweils aktuellen Interessen von Usern ein individuell moduliertes und nicht vorhersehbares, erzählerisches Produkt. Sie ist die Schnittstelle zwischen dem gestalterischen Ideal einer entschiedenen Klarheit und einer nicht wegzudenkenden Komplexität des Lebens, das seine Geheimnisse nicht unbedingt sofort, vielleicht aber auch nie preisgibt.

Der Text basiert auf der Mitschrift einer Vorlesung, die Heinz Emigholz am 6. Februar 2002 in der Reihe Ist der Betracher noch im Bild? – Bildarbeit und Kommunikationskitsch an der Universität der Künste Berlin gehalten hat.

Der Text ist erschienen in: Heinz Emigholz, Das Schwarze Schamquadrat, Verlag Martin Schmitz, Berlin 2002.

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